Abbrüche verhindern, Leistung verbessern: Wie eine Lern-App Studierende in der Anfangsphase unterstützt

Abbrüche verhindern, Leistung verbessern: Wie eine Lern-App Studierende in der Anfangsphase unterstützt

Die Zahl an Studienabbrüchen ist seit Langem hoch, gerade in den ersten Jahren geben viele Studierende ihr Studium vorzeitig auf. Die Gründe für diese Entscheidungen sind vielfältig und lassen sich nicht verallgemeinern. Auf der einen Seite beruhen sie auf gewonnenen Erfahrungen mit den jeweiligen Fachbereichen: Die individuelle Einsicht darin, dass Fachgebiete oder Methoden den eigenen Präferenzen nicht entgegenkommen, führt dazu, das Fach zu wechseln oder gänzlich andere Wege zu gehen. Andere Gründe für den Abbruch des Studiums sind dagegen vermeidbar: So stellt der Wechsel von der schulischen hin zur universitären, höheren Bildung viele junge Menschen vor Herausforderungen. Neben dem Umfeld ändern sich auch die Ansprüche an die Organisationsfähigkeit, das selbstständige Lernverhalten und nicht zuletzt die Komplexität der vermittelten Inhalte. Hier könnte eine mobile Lern-App Abhilfe schaffen.

Institutionen wie Hochschulen ist daran gelegen, die Zahl vermeidbarer Studienabbrüche zu minimieren. Eine mögliche Antwort holt die Studierenden gezielt in ihrem Alltag ab: Die Nutzung von mobilen Endgeräten ist aus dem Leben junger Erwachsener nicht mehr wegzudenken. Smartphones dienen nicht mehr nur allein der Kommunikation, sondern neben der Organisation und Navigation nun vermehrt auch dem Banking und vielen anderen Dingen. Kurzum: Die Geräte sind Teil des Alltags und der Umgang mit ihnen ist ebenso häufig wie intensiv. Anhand dieses Befundes lassen sich durchaus Potentiale absehen, die es nahelegen, diese Geräte zu nutzen, um Studierende zu unterstützen. Es stellt sich mithin die Frage, ob und wie sich eine mobile Lernapplikation dazu eignen könnte, die Anfangsphase des Studiums und seine Herausforderungen für die Betroffenen zu erleichtern und somit den Abbruch eines Studiums zu verhindern. 

Von der Konzeption eines Anforderungsprofils…

Professor Florian Johannsen begann bereits in seiner Zeit an der Universität Bremen mit einem Team eine entsprechende App für den Bereich Wirtschaftswissenschaften zu entwickeln. Auch nach dem Antritt seiner Professur für Betriebliche Anwendungssysteme an der Fakultät für Informatik der HSM ist er weiter Teil dieses Projektes an der Bremer Universität. Auf Seiten des Lehrstuhls für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Unternehmensrechnung und Controlling (Universität Bremen) besteht das Projektteam neben Professor Jochen Zimmermann, Dr. Martin Kipp, Dr. Johannes Voshaar und M.Sc. Janik Ole Wecks auch aus den Kollegen Prof. Thomas Loy (mittlerweile Universität der Bundeswehr München) sowie dem studentischen Mitarbeiter Patrick Heusmann. In mittlerweile fünf Publikationen präsentieren die Forschenden unterschiedliche Etappen der Entwicklung und folglich auch verschiedene Stufen der Implementierung der App „WiWiNow“.

Anwendungsbeispiel

Am Anfang stand die Frage, worin die Gründe für Studienabbrüche liegen und was die spezifischen Bedürfnisse und Herausforderungen von Studierenden am Beginn ihrer akademischen Laufbahn sind: Was sind die individuellen Motive und Situationen, die den Ausschlag für den Abbruch geben? Und wie kann ein App die Studierenden unterstützen, welche Funktionen und Features muss sie bieten? Wichtig ist hierbei die Einbeziehung der Betroffenen, da es genau um ihre Erfahrungen geht und sie am besten Auskunft darüber geben können, welche Angebote nicht nur nützlich wären, sondern auch tatsächlich genutzt werden. Dieser Punkt ist so trivial wie relevant: Beim Design einer App ist nicht nur die Funktionalität und die Usability zu beachten, sondern auch die Wahrscheinlichkeit einer regelmäßigen Nutzung. Es geht darum, die App als aktiven Teil in den Alltag zu integrieren, und so die nützlichen Effekte zu potenzieren. Aber der Reihe nach…

Am Beginn stand die empirische Evidenz, dass nicht nur der Bildungshintergrund einen Einfluss auf Erfolg und Misserfolg der höheren Bildungswege hat, sondern auch schlechte Erfahrungen im Studium selbst sowie psychologische Faktoren wie ineffiziente Lernstrategien oder der Mangel an Selbstorganisation (Vgl. Johannsen et al. 21, S. 1). Diese Kompetenzen werden in der Hochschulbildung vorausgesetzt, was einen großen Unterschied zum schulischen Kontext darstellt. Zugleich sind sie für so manchen Studierenden das umgangssprachliche Neuland. Die Abbruchquoten sind in der ersten Phase vergleichsweise hoch, zugleich haben Studien mit Blick auf das deutsche Bildungssystem einen Mangel an sozialer und akademischer Integration festgestellt, der zu den vermehrten Abbrüchen führt (Vgl. Johannsen et al. 23, S. 636f.). Diesen Herausforderungen der Transition-in-Phase[1] könnte eine App Abhilfe verschaffen, die nicht nur dazu dient, Seminar- und Vorlesungstermine zu koordinieren, sondern auch das Lernverhalten trackt und transparent macht sowie Wissen durch Übungen vertieft und über spielerische Elemente abruft. 

… zur Entwicklung einer App…

Die erste Phase des Projektes befasste sich mit der Konzeption eines Prototyps anhand spezifischer Design-Vorgaben und mit der Taxierung eines technischen Rahmens: Die Fixierung von drei Meta-Anforderungen wurde in acht Design-Anforderungen überführt, welche die App erfüllen muss (Vgl. Johannsen et al. 23, Fig. 2, S. 639). Es ging also darum zu klären, was die App liefern soll, und was die beste technische Lösung wäre. Nach einer ersten Orientierung über das Design der Anwendung und einer Übersicht über die am Markt befindlichen Alternativangebote wurde eine Gruppe Studierender befragt, die sich im zweiten oder dritten Studienjahr befanden: Die Idee war, von deren Erfahrungen der Herausforderungen zu lernen, etwaige Lösungswege zu eruieren und schließlich Anforderungen an die App einzuholen. Eine zweite Umfrage zielte auf eine Gruppe von Lehrenden, die in engem Kontakt zu den Studierenden stehen und mit ihren Problemen vertraut sind. Zugleich verfügen sie über einen reichhaltigen Erfahrungsschatz des akademischen Alltags. Anhand dieser beiden Usergruppen wurden User Journeys beschrieben, also wie mögliche Anwender:innen mit der App umgehen und wie sie durch sie geleitet werden. Anhand des Prototyps konnten dann verschiedene Testphasen vollzogen werden, und sowohl das Front- als auch das Backend verbessert werden. 

Nun war der Zeitpunkt da, die App unter realen Bedingungen zu testen. In einem verpflichtenden Einführungskurs zum Rechnungswesen im Wintersemester 2020/21 wurde die App den Studierenden zur Verfügung gestellt. Um Verzerrungen zu vermeiden, gab es keine Gratifikationen für die Teilnahme an der Studie. Wichtig zu erwähnen ist noch der Umstand der Pandemie und die Folge, dass der Lehrbetrieb ins Digitale verschoben wurde – was natürlich die Testbedingungen veränderte. Von den Teilnehmenden wurden sozio-demografische und strukturelle Daten abgefragt, die in die spätere Auswertung einfließen sollten. Hinzu kamen die Daten der App-Nutzung (u.a. Dauer der Nutzung und Quiz-Performanz), die Daten der Kursteilnahme (neben dem Kurs auch das begleitende Tutorium) und der akademischen Performanz (die Prüfungsleistung). Selbstredend wurden die Daten anonymisiert und dem Datenschutz genüge getan. Am Ende konnten die Daten von 575 Teilnehmenden in die Studie aufgenommen werden (Vgl. Voshaar et al. 22, S. 7).

Im Ergebnis ließ sich festhalten, dass sich ein intensiverer Gebrauch der App signifikant positiv auf das Prüfungsergebnis auswirkt. Gerade weil die höhere Nutzung der App auch mit Faktoren der Besuche der Vorkurse und der Tutorien positiv korrelierte – und folglich unklar war, was der entscheidende Faktor der Leistungssteigerung war –, wurden weitere Untersuchungen nötig. Mit anderen Worten: Es blieb offen, ob die Nutzung der App selbst positive Effekte hatte oder ob leistungsstärkere bzw. motiviertere Studierende die App eher von sich aus nutzten, was den Einfluss der App verringern würde (Vgl. Voshaar et al. 22, S. 14). Nach der Korrektur mit Hilfe einer Kontrollvariable, die auf die Einflussfaktoren der Selbst-Selektion abgestimmt war, haben sich die ersten Ergebnisse aber als robust erwiesen. Nach diesen durchaus positiven Befunden konnten die Forschungen um die App weitergeführt werden.

… über die Bestimmung von Qualitätsdimensionen der Nutzung …

Ein weiterer Ansatz, der zu einer Veröffentlichung geführt hat, befasst sich mit den verschiedenen Qualitätsdimensionen der Akzeptanz, die eine Anwendung aufweisen kann und die mit ihrer Nutzung einhergehen. Hierbei wurden vier Qualitätsdimensionen ausgemacht, die von der App bedient werden sollten und die wiederum selbst in Unterkategorien aufgegliedert werden können: Geht es in der Systemqualität um die Art und Weise, wie die Informationen durch eine App aufbereitet werden, zielt die Servicequalität auf die angebotene Unterstützung ab. Die Informationsqualität wiederum umfasst die Evaluation der ausgegebenen Inhalte, wogegen die Qualitätsdimension des wahrgenommenen Vergnügens (perceived enjoyment) bei der Nutzung ebenso selbsterklärend wie eine für die Wiedernutzung relevante Kategorie ist (Vgl. Johannsen et al. 23, S. 641 – 644). Mit der Intension der Wiedernutzung und der wahrgenommenen Nutzer:innenzufriedenheit (perceived user satisfaction) schließen sich dann zwei Aspekte aus der User-Perspektive an, die wiederum mit unterschiedlichen Qualitätsdimensionen gekoppelt werden können und zugleich beide auf die Lerneffektivität als letzten Aspekt Einfluss haben.

Ein Ziel im Design der App war es, die Funktionalität und den Komfort kommerzieller Apps in der Strukturierung des Alltags mit universitätsbezogenen Inhalten, organisatorischen Funktionalitäten und spielerischen Elementen zu kombinieren (Vgl. Johannsen et al. 23, S. 638f.). Mit Hilfe der unterschiedlichen Qualitätsdimensionen lassen sich Stärken und Schwächen in der Nutzer:innenfreundlichkeit eruieren, was wiederum die Implementierbarkeit in den Alltag zumindest indirekt erhellt. 

Im Ergebnis wurde eine Umfrage zu den Erfahrungen der Nutzung ausgewertet, an der sich zum Semesterende 131 Studierende beteiligten, wobei das eigentliche Sample aus unterschiedlichen Gründen (z. B. unvollständige Datensätze) 113 Studierende umfasste. In diese Auswertung flossen die vermerkten Qualitätsdimensionen ein, die in unterschiedlichen Items abgefragt wurden. Die System- und die Informationsqualität sowie die Qualitätsdimension des wahrgenommenen Vergnügens fördern die Nutzer:innenzufriedenheit, wobei die letzte Qualitätsdimension auch die Intension zur Wiedernutzung verstärkt. Die Lerneffektivität wird wiederum durch die Nutzer:innenzufriedenheit und die Intension positiv beeinflusst. Anhand dieser Daten konnte das Design der App und seine Erfüllung der Anforderungen überprüft und justiert werden (Vgl. Johannsen et al. 23, S. 651ff.). Ferner konnten vier spezifische Designprinzipien formuliert werden, die eine App bezogen auf die Transition-in-Phase beachten sollte: Neben einer Teilnahme-Management-Funktion bedarf es einer Kontrollfunktion des selbstständigen Lernens. Zudem muss eine plattformübergreifende Zugänglichkeit gegeben sein und die Inhalte einfach zu organisieren sein (Vgl. Johannsen et al. 23, S. 655f.).

… über die Verbesserung des Lernverhaltens …

In einer weiteren Studie, die auf der 44. Internationalen Konferenz zu Informationssystemen (International Conference on Information Systems – ICIS) in Hyderabad vorgestellt wurde, wird der Versuch unternommen, die App an etablierten Ansätzen der Lerneffektivität zu messen. Zwar wurde eine Verbesserung der Noten in den Abschlussprüfungen bereits nachgewiesen, dieser Aspekt ist aber nur ein Teilbeitrag zum Ziel, die Abbruchsquoten des Studiums zu senken. Das Konzept der fünf Erfolgsfaktoren studentischen Erfolgs hat Lizzio (2011) bezogen auf die Transition-in-Phase entwickelt: Die Erfolgsfaktoren sind die Verbundenheit (connectedness) z.B. mit dem akademischen Leben, die Fähigkeit (capability) der Selbstorganisation u.a., die Sinnhaftigkeit (purpose) z.B. akademischer Praxen, der Einfallsreichtum (resourcefulness) in der Koordinierung verschiedener Anforderungen und die Kultur (culture) im Sinne einer Wertschätzung der höheren Bildung. Der zweite Ansatz differenziert unterschiedliche Lernmodelle mit je eigenen Charakteristika: Neben dem oberflächlichen Lernen kann das strategische und zuletzt das tiefe Lernen angeführt werden (Vgl. Voshaar et al. 23, S. 3f.). Bleibt das erste Lernverhalten unfokussiert und ephemer, unterwirft sich das zweite Modell der Maxime der Effizienz und spricht dem Gelernten selbst keinen Eigenwert zu. Das tiefe Lernen wiederum lässt sich am ehesten als eigenständige Durchdringung der Wissensbestände erklären. Ziel war es zu erfahren, ob die App bzw. bestimmte Elemente helfen, die Herausforderungen der Transition-in-Phase zu meistern.

Die Auswertung der Studie ergab, dass die Nutzung der App die Sinne der Fähigkeit und des Einfallsreichtums positiv beeinflussen kann. Zudem verstärkt es das strategische und mindert das oberflächliche Lernverhalten. Die App hilft demnach bei der studentischen Selbstorganisation, fördert das eigenverantwortliche Lernen und die Einsicht in institutionelle Anforderungen in der höheren Bildung. Diese Potentiale sollten sich nutzen lassen, um die Quoten der Studienabbrüche zu verringern, werden Studierende doch über Angebote der App bei den ausgemachten Herausforderungen in der Anfangsphase des Studiums unterstützt.

In Kombination mit analogen Unterstützungsangeboten vor Ort haben die verschiedenen Komponenten der App unterschiedliche Potentiale der Unterstützung, die von der Selbstorganisation über die Prüfungsvorbereitung bishin zur Ausbildung einer studentischen Identität reichen. Gerade weil Defizite an effizienten Lernstrategien und dem Zeitmanagement enorme Potentiale an Frustration bergen, kann hier die App produktive Akzente setzen. Nicht zuletzt dienen die spielerischen Elemente der App der Motivation zur Wiedernutzung. Somit kann die App nicht nur die abgerufene Prüfungsleistung verbessern, sondern auch andere Impulse der Unterstützung setzen, die neben dem Lernverhalten auch die Selbstorganisation betreffen.

… bis zur Differenzierung verschiedener App-Features

In der jüngsten Studie befasst sich das Bremer Team zusammen mit Florian Johannsen mit der Frage, ob sich die einzelnen Komponenten der App anhand ihrer Effektivität differenzieren lassen. Diese Studie wurde auf der 45. Internationalen Konferenz zu Informationssystemen (International Conference on Information Systems – ICIS) in Bangkok vorgestellt. Zunächst konnte bestätigt werden, dass App-Nutzende ein signifikant besseres Ergebnis in den Prüfungen haben. Eine Unterteilung in verschiedene Nutzungstypen (Übungen, Quizze und Selbstorganisation) ergab keine nennenswerten Unterschiede hinsichtlich einer Verbesserung der Prüfungsleistung.

Prof. Florian Johannsen und Dr. Johannes Voshaar auf der Konferenz (Bildquelle: privat)

Die anschließende Forschungsfrage war, ob die Komponenten der App die Anforderungen und die Prinzipien des Designs unterschiedlich gut unterstützen. Festhalten lässt sich zunächst, dass alle drei App-Features die Leistung positiv unterstützen, mit einer Ausnahme: Die Beantwortung komplexer Fragestellungen wurden durch das Quiz-Feature nicht signifikant positiv gefördert. Das ist auch durchaus plausibel, zielen die Quizze doch auf die Abrufung von Wissensbeständen, und nicht auf deren Anwendung in diffizilen Fällen ab.

Relativ lässt sich sagen, dass die Übungsfunktion den stärksten Unterstützungseffekt hat, der zugleich über die verschieden Fragetypen stabil bleibt. Bei den einfachen Fragekomplexen, die Standardwissen abriefen, waren auch die Quizze für die Studierenden hilfreich. Das Selbstorganisationsfeature trägt zwar ebenfalls zur Verbesserung der Prüfungsleistung bei, aber in geringerem Ausmaß. Die Studierenden in der konkreten Studie profitierten also am meisten von der Übungsfunktion, wobei die Quizzes ergänzend für den Aufbau von Wissensbeständen nützlich waren. Die Selbstorganisationsfunktionen haben zwar einen relativ geringen Mehrwert für die Prüfungsleistung, ihre positiven Effekte könnten aber auf andere Weise entstehen und eher die grundlegende Identitätsbildung der Studierenden betreffen. Durch den Abgleich mit den beiden Designaspekten lassen sich Empfehlungen für App-Entwickler:innen, Studierende und Lehrende formulieren (Vgl. Voshaar et al. 24, S. 13f.).

Viele Fragen sind noch offen, so wird auch die Erforschung der Nützlichkeit einer mobilen Lern-App weitergehen. Neben der Frage der Zweckdienlichkeit der organisatorischen Features und ihrer deskriptiven Abbildung können auch die Komponenten der App in ihren positiven Effekten weiter aufgeschlüsselt und differenziert werden. Gerade weil neue Technologien wie das Smartphone nicht mehr aus dem Alltag wegzudenken sind, ist die Implementierung einer mobilen Lern-App sinnvoll und ihre Erforschung geboten, auch um den Bedürfnissen nach ort- und zeitunabhängigen Angeboten gerecht zu werden. Es geht bei den verschiedenen Lehr- und Lernformen eben nicht um ein Verhältnis der Konkurrenz, sondern der Komplementarität, also der gegenseitigen Ergänzung. Die Digitalisierung setzt auch hier neue Impulse, die in Technologien wie einer Lern-App produktiv aufgenommen werden können.

Literatur (chronologisch sortiert)

  • Lizzio, A. (2011), The Student Lifecycle: An Integrative Framework for Guiding Practice. Griffith University.
  • Johannsen, F; Knipp, M; Loy, T; Voshaar, J; Zimmermann, J (2021): A mobile app to support students in the „transition-in“ phase. Proceedings of the 29th European Conference on Information Systems (ECIS 2021), Research-in-Progress Paper.
  • Voshaar, J., Knipp, M., Loy, T., Zimmermann, J. and Johannsen, F. (2022), „The impact of using a mobile app on learning success in accounting education“, Accounting Education, Vol. No. pp. 1-26.
  • Johannsen, F., Knipp, M., Loy, T. et al. (2023): What impacts learning effectiveness of a mobile learning app focused on first-year students?. Inf Syst E-Bus Manage (2023). https://doi.org/10.1007/s10257-023-00644-0
  • Voshaar, J., Wecks, J.O., Johannsen, F., Knipp, M., Loy, T., Zimmermann, J. (2023): Supporting Students in the Transition to Higher Education: Evidence from a Mobile App in Accounting Education, Proceedings of the International Conference on Information Systems (ICIS 2023), Hyderabad, India.
  • Voshaar, J., Johannsen, F., Mkervalidze, S. and Zimmermann, J. (2024). Unbundling the App Advantage: Evaluating Exam Performance-enhancing Features of Mobile Learning Apps in Accounting. International Conference on Information Systems (ICIS 2024). Bangkok.

[1] Die Transition-in-Phase ist eine Etappe des Studierendenzyklus nach Lizzio (2011). Dieser unterteilte das Studium in verschiedene, teils vor- und nachgelagerte Phase, in denen sich unterschiedliche studentische Identitäten je nach genuinen Herausforderungen, Aufgaben und Status ergaben. 

Wie lässt sich Personal halten? Über wirtschaftspsychologische Faktoren der Mitarbeiterbindung

Wie lässt sich Personal halten? Über wirtschaftspsychologische Faktoren der Mitarbeiterbindung

In Zeiten obwaltenden Fachkräftemangels wird die Herausforderung für Unternehmen, qualifiziertes Personal anzuwerben oder auch nur zu halten, nicht eben geringer. Durch die Fluktuation der Beschäftigten ergeben sich nebst Potentialen frischen Winds auch Reibungsverluste, die Unternehmen vermeiden wollen. So bedarf neues Personal einer Einarbeitungszeit, und zugleich verlieren die Unternehmen mit den Mitarbeiter:innen immer individuell erworbenes Sach- und Handlungswissen. Auch müssen die Vakanzzeiten überbrückt werden, wodurch die Arbeitsbelastung der Kolleg:innen steigt. Mit den psychologischen Faktoren und Mechanismen, die dem Verbleiben der Beschäftigten dien- oder schädlich sind, befasst sich Katharina Sachse, Inhaberin der Professur für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Schmalkalden. Eine Studie, die diesen Themen empirisch nachgeht und zu der sie in Koautorinnenschaft mit Ulrike Gaedke jüngst einen Artikel veröffentlichte, stellte sie im Rahmen ihrer Antrittsvorlesung an der Hochschule Schmalkalden vor.

Faktoren der Bindung

Um zu verstehen, was Mitarbeiter:innen an ihren Arbeitsstellen hält, muss eine dementsprechende Perspektive eingenommen werden: Ein Faktor dieser Bindung lässt sich mit dem englischen „commitment“ umschreiben, dass begrifflich zwischen den Bedeutungen einer Verpflichtung sowie Einbindung und einer Hingabe sowie einem Engagement schwankt. Das Commitment besteht aus verschiedenen Komponenten: Im affektiven Commitment, das in der Studie im Fokus stand, geht es um eine gefühlte Bindung an das Unternehmen und den Job. Anders formuliert meint dies ein „Selbst-“Bekenntnis und „den Wunsch der Beschäftigten, Teil des Unternehmens zu sein und zu bleiben.“ Demgegenüber verschiebt sich im normativen Commitment die Relation: Es geht nicht mehr um die Wertschätzung des Unternehmens, sondern um eine wahrgenommene Verpflichtung gegenüber dem Unternehmen. Weil beispielsweise meine Firma mir diese kostspielige Weiterbildung finanziert hat, habe ich eine Bringschuld gegenüber dem Unternehmen und bin mit ihm verbunden. Als dritter Aspekt kann ein kalkulatorisches Commitment angeführt werden, das allerdings auf eine vergleichsweise oberflächliche Bindung aufgrund rationaler Erwägungen abhebt. Beschäftigte bleiben hierbei aufgrund individueller und situativer Vorteile, entwickeln jedoch keine tiefergehende Beziehung.

Die Frage der Studie ist nun, wie und ob die Bindungseffektes des affektiven Commitments mit der Einbettung in den Job  und dem psychologischen Vertragsbruch zusammenhängen respektive sich positiv oder negativ auf die Mitarbeiterbindung auswirken. Um dies zu klären, wurde eine Online-Befragung von über fünfhundert Teilnehmenden vorgenommen und ausgewertet.

Passung und psychologische Verträge

Die Einbettung besteht nicht nur selbst aus verschiedenen Aspekten, es ist zudem wichtig, zwischen den Sphären des Beruflichen und des Privaten zu trennen, die hier beide einen distinkten Einfluss haben. Die Verbindungen sind der erste Aspekt: Sie beziehen sich auf das soziale Umfeld und die Aktivitäten, also neben dem Kreis der Kolleg:innen und den Führungskräften auch kollektive Teambuildingmaßnahmen auf der einen Seite, und das familiäre Umfeld sowie die Freundes- und Bekanntenkreise und die Freizeitaktivitäten auf der anderen Seite. Je besser sich der Job mit diesen Aspekten einer sozialen Qualität verträgt, umso höher sollte die Bindung sein. Die Passung als zweiter Aspekt zielt auf die Kompatibilität zwischen dem Individuum mit seinen Kenntnissen, Talenten und seiner Biografie und dem Anforderungsprofil des Jobs: Passt die Person also zum Job, oder kann sich diese an anderer Stelle besser und ihren Talenten gemäßer einbringen? Ein Mangel dieser Passung könnte also zu einer Über- oder Unterforderung bzw. zu Frustrationserfahrungen in der beruflichen Tätigkeit führen. Auf der anderen Seite ist es die Frage, wie sich die Anforderungen des Jobs mit einem gelingendem Sozialleben übereinbringen lassen – hier ist an Dinge wie Gleitzeit und weit mehr zu denken. Die dritte Komponente ist der Verzicht und meint die Vorzüge, die bei einem Jobwechsel seitens des Beschäftigten aufzugeben wären. Neben der Vergütung sind dies u.a. Home-Office-Regelungen, Job-Tickets, betriebliche Rentenversicherungen oder Möglichkeiten der Kinderbetreuung.

Der dritte Faktor ist der psychologische Vertragsbruch und seine Folgen. Wichtig ist es, den Bruch zu vermeiden, da dieser negative Effekte auf die Mitarbeiterbindung und dessen Arbeitsbereitschaft hat. Was ist der psychologische Vertrag? Anders als der Arbeitsvertrag ist dieser kein Teil direkter Aushandlung noch wird er schriftlich fixiert oder ist er einklagbar. Der psychologische Vertrag ist eine gegenseitige Erwartungshaltung, die durch verschiedene Situationen und beteiligte Akteure geprägt werden kann. Von Seiten der Beschäftigten kann dies bereits durch die digitale Selbstpräsentation des zukünftigen Unternehmens im Internet geschehen, durch das Image oder das Leitbild. Andere Prägungen können durch das Bewerbungsgespräch oder den Onboarding Prozess einfließen. Natürlich sind darüber hinaus auch Mitarbeitergespräche und ähnliches hier relevant. Im Resultat entsteht eine Erwartungshaltung des oder der Beschäftigten gegenüber der Organisation, seien es monetäre Versprechungen, die Ausrichtung der Arbeitsstelle, Weiterbildungen oder andere Dinge. Wird dieser Erwartung nicht entsprochen, kann es zum Bruch des psychologischen Vertrags kommen: Die Folgen sind ein Vertrauensbruch, Enttäuschung und eine sinkende Arbeitsmoral. Gerade weil der psychologische Vertrag nicht kodifiziert ist, fällt es in den Aufgabenbereich der Führungskräfte, auf Signale seiner Nichteinhaltung seitens der Beschäftigten zu achten.

Befragung und Auswertung

Katharina Sachse und Ulrike Gaedke gingen den Fragen der Mitarbeiterbindung über eine Online-Befragung Anfang 2024 nach, die sie über Karrierenetzwerke und eine Hochschule für berufsbegleitendes Studium verbreiteten. Die Stichprobe umfasste 512 Individuen, die einen Fragenkatalog ausfüllen mussten, der wiederum die verschiedenen Facetten und Dimensionen der Studie abdeckte.

Im Ergebnis der Studie kann resümiert werden, dass zwischen den angesprochenen Variablen ein direkter, starker statistischer Zusammenhang festgestellt werden konnte, und die Faktoren demnach die Mitarbeiterbindung stärken können. Eine These der Studie war, dass die Einbettung das affektive Commitment stärkt, was wiederum zu einer höheren Mitarbeiterbindung führt. Auch wenn sich diese Annahme bestätigt fand, wurde gleichzeitig eine vom Commitment unabhängige Beziehung der Einbettung und der Mitarbeiterbindung festgestellt. Hier würde sich folglich eine Förderung lohnen.

Empfundene psychologische Vertragsbrüche verringern die Bindungswirkung der anderen Aspekte. Dabei sind die Vertragsbrüche keine Seltenheit: Ungefähr ein Viertel der befragten Personen konnte ein oder mehrere Beispiele nennen, wobei sich die meisten ungehaltenen Versprechen auf die Personalentwicklung und das Gehalt bezogen.

Mitarbeiter:innen binden

Im Resultat können Unternehmen, denen an der Mitarbeiterbindung aus guten Gründen gelegen sein sollte, nun auf Stellschrauben zurückgreifen. Neben klassischen Teambuildingmaßnahmen kann die Passung des Jobs beständig optimiert werden. Wichtig ist es bei diesen Maßnahmen, auf die individuellen Bedürfnisse der Beschäftigten zu achten und die Passung der privaten und der beruflichen Sphäre mitzudenken. Daneben sollten Unternehmen und speziell die Führungskräfte und die Verantwortlichen im Personalbereichs eine Sensibilität gegenüber dem psychologischen Vertrag ausbilden: Hierbei sind neben den expliziten Aussagen eben auch die impliziten Gehalte wichtig.

Der Artikel wird im April 2025 in der Zeitschrift Führung + Organisation (zfo) erscheinen. Die Studie konnten die beiden Wissenschaftlerinnen auch bei der 28. Fachtagung der Gesellschaft für angewandte Wirtschaftspsychologie (GWPs) in Hamm Anfang des Jahres vorstellen.

Seit dem Wintersemester 2024/25 hat Katharina Sachse die Professur für Wirtschaftspsychologie an der HSM inne. Sie promovierte an der TU Berlin zum Thema „Risikowahrnehmung und -verhalten privater Kapitalanleger“ und wirkte in verschiedenen Forschungsprojekten zur Kommunikation von Gesundheitsrisiken mit. Im Anschluss war sie als Arbeitspsychologin und Organisationsberaterin tätig. Zudem lehrte sie an verschiedenen Hochschulen, bevor sie 2016 eine Professur für Wirtschaftspsychologie an der FOM Hochschule in Berlin antrat. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit Themen wie Commitment, Führung und Gesundheit in der modernen Arbeitswelt.

Prof. Dornieden während des Vortrags

Die Herausforderungen der Nachhaltigkeit von Lieferketten. Ein Praxisbericht zu den Auswirkungen des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes auf Unternehmen

Die wahrlich nicht allzu eingängige Wortschöpfung des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes stellt Unternehmen vor weitaus größere Probleme als jene der vollständigen Wiedergabe des Ausdrucks. Die Novelle des Gesetzes und vor allem die Verschiebung von einer freiwilligen Selbstverpflichtung der Unternehmen hin zu einer verbindlichen Norm nehmen sich gerade für mittlere und größere Unternehmen als eine immense Herausforderung aus.  Kurz gefasst verlangt das Gesetz nunmehr von den Unternehmen, die Einhaltung bestimmter ökologischer und menschenrechtlicher Standards ihrer unmittelbaren Zulieferbetriebe sicherzustellen. Somit müssen Unternehmen, die aus dem Ausland Materialien oder Waren beziehen, für die Produktionsverfahren und Arbeitsbedingungen ihrer Zulieferer Verantwortung übernehmen. Komplexe Beschaffungsstrukturen mit einem Vielerlei zerstreuter Lieferanten machen die Einhaltung dieser rechtlichen Vorgaben nicht eben leicht.

Professor Michael Dornieden, der an der Fakultät Wirtschaftswissenschaften die Professur für allgemeine Betriebswirtschaftslehre mit den Schwerpunkten Beschaffung und Produktion innehat, ging den Auswirkungen der Gesetzesnovelle im Rahmen seines Praxissemesters nach. Weil sich die Gesetzesnovelle für die Unternehmen lange Zeit als eine Art black box unbekannten Inhalts ausnahm, war an dieser Stelle eine wissenschaftliche Begleitung ebenso sinnvoll wie konstruktiv. Welche Effekte die Anforderungen auf ein mittelständisches, gleichwohl international tätiges Unternehmen und seine Beschaffungsstrukturen zeitigt, konnte Professor Dornieden im Rahmen seiner Mitarbeit im Unternehmen Ottobock SE & Co. KGaA nachgehen. Als ein sogenannter hidden champion im Bereich des health tech ist dieses Unternehmen mit seinen fast 9000 Beschäftigten ein Weltmarktführer dezidiert im Bereich Prothetik. Aber auch auf anderen Feldern der Orthopädietechnik wird dem Unternehmen Expertise zuerkannt, so bei individuell-zugeschnittenen Rollstühlen oder auch Exoskeletten.

Überleitung zur Fragerunde

Neben der Spezialisierung der Produkte weist das Unternehmen im Bereich der Beschaffung einen hohen Grad der Diversifizierung und ein heterogenes Portfolio auf, was die Übersicht und Kontrolle der Lieferketten zumindest nicht erleichtert. Um also die Folgen der Gesetzesnovelle abzusehen galt es für Professor Dornrieden zunächst, den Status quo zu analysieren. Welche Lieferketten bestehen, wie viele Lieferanten gibt es, welche Art von Verträgen mit welchen Konditionen (zum Beispiel in Hinsicht der Einhaltung von Standards) liegen mit den Partnern vor usw.? Anhand dieser Prüfung konnte dann im nächsten eine Konsolidierung der Lieferstrukturen konzipiert werden, die zugleich den Ansprüchen der Sorgfaltspflicht entgegenkam. Eine Möglichkeit der Optimierung besteht darin, die Zerstreuung der Lieferanten zu reduzieren und die Beschaffungswege wo möglich zu bündeln. Weil durch die Harmonisierung weniger Elemente innerhalb der Beschaffung zu berücksichtigen sind, sollte die Kontrolle der Einhaltung der Nachhaltigkeitskriterien leichter fallen. Daneben wäre ein anderer Ansatz, Verträge mit den Lieferanten anhand der rechtlichen Vorgaben auszurichten und die Kriterien somit verbindlich zu setzen. Diese Integration ist allerdings nur mittel- bzw. langfristig möglich.

Die Möglichkeit, die Folgen von Veränderungen rechtlicher Rahmenbedingungen direkt in betroffenen Unternehmen zu studieren und diesen im Umgang mit den entstehenden Herausforderungen zu unterstützen, bot Professor Dornieden eine gewinnbringende Erfahrung direkter Mitwirkung.

Ein Blick in das Publikum
Zeitinkonsistenz: Über die Hemmnisse wirtschaftspolitischer Reformen

Zeitinkonsistenz: Über die Hemmnisse wirtschaftspolitischer Reformen

Bericht aus dem Forschungssemester

Der Begriff der Zeitinkonsistenz ist ebenso komplex wie er in verschiedenen disziplinären Kontexten unterschiedliche Charakteristika aufweist. Zeitinkonsistenzen bestehen zunächst allgemeinhin dann, wenn sich ein Faktor, zum Beispiel eine Einstellung gegenüber einem Thema, im Laufe der Zeit verändert, obwohl die relevanten Einflussgrößen stabil bleiben und folglich nicht die Ursache für den Wandel sind.

Lebensweltlich lässt sich unser Verhältnis zu Diätplänen mit diesem Begriff ganz gut beschreiben: Fassen wir das Vorhaben, in zwei Wochen mit einer Diät zu beginnen, überzeugt uns dieses Ansinnen vollständig und wir sind von dessen Realisierbarkeit und unserem Willen, das Projekt nun endlich anzupacken, vollends überzeugt. Rückt aber der Zeitpunkt einer aktiven Umsetzung näher, umso mehr verliert der Plan an Attraktivität und letztlich auch an unserer Unterstützung. Begänne die Diät bereits morgen, schöben wir sie bedeutend schneller auf. In der Zeit ändert sich also die Bewertung, auch wenn die äußeren Parameter gleichbleiben.

Prof. Robert Richert aus der Fakultät der Wirtschaftswissenschaften versucht, dem Begriff eine weitere Facette hinzuzufügen und mit seiner Hilfe sowohl Phänomene der Wirtschaftspolitik zu erschließen als auch ein Konzept für die Einschätzung der sozioökonomischen Lage bereitzustellen. Nach seiner Definition liegen Zeitinkonsistenzen dann vor, wenn der relevante Zeithorizont der Entscheider kürzer ist als der relevante Zeithorizont, dessen die nachhaltige Lösung eines Problems bedarf.[1]

Gegenstände wie die demografische Zeitbombe und das Ausbleiben einer adäquaten politischen Reaktion ließen sich mit Hilfe des Begriffs beschreiben: Die Statistik der Bevölkerungsentwicklung weist seit 1972 ununterbrochen Sterbeüberschüsse für Deutschland auf. Wie es an der Geburtenrate von 1,53 Kindern pro Frau offenkundig wird, schrumpft die Bevölkerung, obgleich Zuzüge diese Entwicklung partiell abmildern. Da viele Sozialstrukturen der Bundesrepublik auf generationenübergreifenden Umlagesystemen beruhen, also beispielsweise die Renten zum großen Teil über die Beschäftigung der Arbeitnehmenden finanziert werden, resultieren aus der Diskrepanz der Bevölkerungsentwicklung auch in anderen Bereichen massive Konsequenzen.  Da folglich einer abnehmenden Zahl an Einzahlenden eine zunehmende Zahl von Empfangenden gegenübersteht, wäre es die Aufgabe der politisch verantwortlichen Personen, den negativen Effekten dieser Entwicklung vorausschauend und langfristig korrigierend zu begegnen. Zugleich spitzt sich diese Situation gegenwärtig noch mehr zu, weil in der Bundesrepublik in den nächsten Jahren die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen werden und sich in der Folge das Missverhältnis weiter vergrößert.

Mit der Zeitinkonsistenz versucht sich Prof. Richert der spezifischen Frage anzunähern, warum trotz der offenkundigen Evidenz und der Relevanz des Problems sich die Politik inkompetent zu dauerhaften, strukturellen Lösungen zeigt. Die zeitliche Einengung politischen Handels wird durch den Zeithorizont von Legislaturperioden nur noch vergrößert, der das Handeln politischer Amtsträger prägt und einschneidende politische Entscheidungen in dem Maße unwahrscheinlicher macht, wie die nächsten Wahltermine näher rücken. Die Zeitinkonsistenz würde in dieser Lesart ein strukturelles Defizit periodischer Legitimierung politischer Funktionsträger bezeichnen, durch das langfristige und tiefgreifende Reformen gehemmt werden. Solche und andere Verengungen des Zeithorizontes verhindern also nachhaltige Lösungsansätze der Politik.


[1] Richert. Robert: Grundlagen der Volkswirtschaftslehre aus globaler Sicht, Wiesbaden 2021, S. 52