Zeitinkonsistenz: Über die Hemmnisse wirtschaftspolitischer Reformen

Bericht aus dem Forschungssemester

Der Begriff der Zeitinkonsistenz ist ebenso komplex wie er in verschiedenen disziplinären Kontexten unterschiedliche Charakteristika aufweist. Zeitinkonsistenzen bestehen zunächst allgemeinhin dann, wenn sich ein Faktor, zum Beispiel eine Einstellung gegenüber einem Thema, im Laufe der Zeit verändert, obwohl die relevanten Einflussgrößen stabil bleiben und folglich nicht die Ursache für den Wandel sind.

Lebensweltlich lässt sich unser Verhältnis zu Diätplänen mit diesem Begriff ganz gut beschreiben: Fassen wir das Vorhaben, in zwei Wochen mit einer Diät zu beginnen, überzeugt uns dieses Ansinnen vollständig und wir sind von dessen Realisierbarkeit und unserem Willen, das Projekt nun endlich anzupacken, vollends überzeugt. Rückt aber der Zeitpunkt einer aktiven Umsetzung näher, umso mehr verliert der Plan an Attraktivität und letztlich auch an unserer Unterstützung. Begänne die Diät bereits morgen, schöben wir sie bedeutend schneller auf. In der Zeit ändert sich also die Bewertung, auch wenn die äußeren Parameter gleichbleiben.

Prof. Robert Richert aus der Fakultät der Wirtschaftswissenschaften versucht, dem Begriff eine weitere Facette hinzuzufügen und mit seiner Hilfe sowohl Phänomene der Wirtschaftspolitik zu erschließen als auch ein Konzept für die Einschätzung der sozioökonomischen Lage bereitzustellen. Nach seiner Definition liegen Zeitinkonsistenzen dann vor, wenn der relevante Zeithorizont der Entscheider kürzer ist als der relevante Zeithorizont, dessen die nachhaltige Lösung eines Problems bedarf.[1]

Gegenstände wie die demografische Zeitbombe und das Ausbleiben einer adäquaten politischen Reaktion ließen sich mit Hilfe des Begriffs beschreiben: Die Statistik der Bevölkerungsentwicklung weist seit 1972 ununterbrochen Sterbeüberschüsse für Deutschland auf. Wie es an der Geburtenrate von 1,53 Kindern pro Frau offenkundig wird, schrumpft die Bevölkerung, obgleich Zuzüge diese Entwicklung partiell abmildern. Da viele Sozialstrukturen der Bundesrepublik auf generationenübergreifenden Umlagesystemen beruhen, also beispielsweise die Renten zum großen Teil über die Beschäftigung der Arbeitnehmenden finanziert werden, resultieren aus der Diskrepanz der Bevölkerungsentwicklung auch in anderen Bereichen massive Konsequenzen.  Da folglich einer abnehmenden Zahl an Einzahlenden eine zunehmende Zahl von Empfangenden gegenübersteht, wäre es die Aufgabe der politisch verantwortlichen Personen, den negativen Effekten dieser Entwicklung vorausschauend und langfristig korrigierend zu begegnen. Zugleich spitzt sich diese Situation gegenwärtig noch mehr zu, weil in der Bundesrepublik in den nächsten Jahren die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen werden und sich in der Folge das Missverhältnis weiter vergrößert.

Mit der Zeitinkonsistenz versucht sich Prof. Richert der spezifischen Frage anzunähern, warum trotz der offenkundigen Evidenz und der Relevanz des Problems sich die Politik inkompetent zu dauerhaften, strukturellen Lösungen zeigt. Die zeitliche Einengung politischen Handels wird durch den Zeithorizont von Legislaturperioden nur noch vergrößert, der das Handeln politischer Amtsträger prägt und einschneidende politische Entscheidungen in dem Maße unwahrscheinlicher macht, wie die nächsten Wahltermine näher rücken. Die Zeitinkonsistenz würde in dieser Lesart ein strukturelles Defizit periodischer Legitimierung politischer Funktionsträger bezeichnen, durch das langfristige und tiefgreifende Reformen gehemmt werden. Solche und andere Verengungen des Zeithorizontes verhindern also nachhaltige Lösungsansätze der Politik.


[1] Richert. Robert: Grundlagen der Volkswirtschaftslehre aus globaler Sicht, Wiesbaden 2021, S. 52

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